Station to Station | 2022 | Eine Reise in sechs Stationen

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Die liebe Erde allüberall
Blüht auf im Lenz und grünt aufs neu!
Allüberall und ewig
Blauen Licht die Fernen!
Ewig… ewig…

Gustav Mahlers Komponierhäuschen ǀ Toblach
© Chris Meischl

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Im ersten Jahr des Projektes soll eine gemeinsame Reise begonnen werden, die von, zu und in Gustav Mahlers »Lied von der Erde« führt. Diese 1908 komponierte Verschmelzung von Lied und Symphonie wurde in Mahlers Todesjahr 1911 postum in München unter Bruno Walter uraufgeführt, der es als das »Mahlerischste seiner Werke« titulierte.

Adaptierte Übertragungen chinesischer Lyrik der antiken Tang-Dynastie treffen auf den nach Transzendenz suchenden Weltschmerz der keimenden Moderne. Zeitgleich mit der Uraufführung von Mahlers »Lied von der Erde« hielt Alexander Moszkowski eine Erkenntnis der Moderne fest, die als Basis unserer Auseinandersetzung mit der Bahntechnologie und ihren existenziellen Effekten gelten kann:

»Die Eisenbahn hat, wie keine andere technische Schöpfung, fördernd und umgestaltend auf die Kultur der Menschheit eingewirkt. Sie hat ein ganz neues Zeitalter heraufgeführt. Im Widerspruch mit der üblichen historischen Einteilung kann man alles, was vor Einführung der Eisenbahn als öffentliche Verkehrseinrichtung liegt, als Altertum bezeichnen, den Rest als Neuzeit. Was wir Verkehr nennen, ist ja erst zusammen mit der Eisenbahn entstanden. Die Schienenwege bewirken, dass es praktisch eigentlich gar keine Entfernungen auf der Erde mehr gibt.«

So steht seit dem 19. Jahrhundert der Dampf der Lokomotive für die schnelle Entstehung neuer Welten, für die Beschleunigung von Lebensvollzügen generell, für die menschliche Entdeckerlust, aber auch für den Willen des Menschen, sich die Erde zu erschließen und sie sich zu unterwerfen. Die industrielle Revolution, wie sie in der Eisenbahn zu sinnbildlicher Verdichtung gelangte, zog massive Veränderungen nach sich, die Landschaftsplanungen, Kommunikation, unsere politische Kultur, das Rechtswesen, neue Kulturtechniken und Lebensgewohnheiten mit sich brachte. In Nachbarschaft dazu gibt es seit Mitte des 20. Jahrhunderts das unauslöschliche Bild von den massenhaft mörderischen Menschenabtransporten, in dem Gleise, Trassen und Wagons auch für die bis in den Kern menschlicher Existenz reichende Erschütterung stehen, dass sich das Moralische, trotz aller Aufklärung, nicht von selbst versteht.

Alle Kunst widersetzt sich dem Statischen, indem sie uns Reflexion aufgibt: Die Tätigkeit ästhetischen Urteilens ist ein fortwährendes In-Beziehung-Setzen von Kunst und Welt. In diesem Sinne ist Kunstwahrnehmung immer prozessual. Sie ist nie, sondern wird immer. So ist auch das transitive Element im Titel »Station to Station« zu lesen. Das Projekt zielt auf die Schaffung künstlerischer Freiheitsräume und Reflexionsebenen in und durch Bahnhöfe ab, und sucht nicht zuletzt darin auch ein Europaverständnis zu stärken, das seinerseits nicht in erster Linie politisch oder ökonomisch ist.

Die Frage nach dem kulturellen Selbstverständnis Europas soll hier ins Zentrum rücken. Bahnhöfe sind ihrem Ursprung und ihrer kulturhistorischen Bedeutung nach europäische Orte, die aus der Mitte der Städte heraus- und in die zu schaffenden und zu erkundenden Welten hinausführen. Wohin und wie gereist wird, bedingen die Möglichkeiten, die das Netz hergibt. Allerdings richten sich infrastrukturelle Entscheidungen vornehmlich nach politischen und wirtschaftlichen Aspekten, das Buchen ist ein Onlinevorgang, der Check-in wird es zunehmend auch, der Reisekomfort ist auf ein Ankommen ausgerichtet, denn es sind ja Kundeninteressen zu bedienen, die primär darin bestehen, schnell ans Ziel zu kommen. Das Reisen auf seinen praktischen Nutzen reduzieren zu wollen führt jedoch zu einer Verengung des Reisebegriffs selbst. Es stellt sich die Frage, ob es nicht Europa ist, das dieser Entwicklung ein Sich-Besinnen entgegensetzen müsste; ob nicht Europa und Deutschland, sofern Infrastruktur, Mobilität, Nachhaltigkeit, sogar Freiheit und Menschenwürde betroffen sind, eine modernführende und verantwortlich-gestaltende Rolle übernehmen müssten – und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer kolonialen und kriegerischen Vergangenheit.

Bahnhöfe und Bahnverkehr werden innerhalb dieses Projekts jedoch nicht einfach als öffentliche Orte und Plattformen für davon unabhängige Kunstpräsentationen benutzt. Vielmehr sollen Bahnhöfe ihrerseits als Schnittstellen kultureller Transformationen ästhetisch ernst genommen und über drei Jahre künstlerisch gespiegelt und transformiert werden. Nach dem Auftakt soll im Rahmen von »Station to Station« eine spartenübergreifende Konstellation an künstlerischen Performances, Installationen, Bildern, Texten und klassischen Konzerten mit den unterschiedlichen Bahnhöfen in einen Dialog treten, wobei wie nebenbei die zeitgestaltende und zeitverändernde Kraft dieser Übergangs- und Durchgangsorte des Reisens auch in ihrer Eigenästhetik hervortreten können. Anästhesierende Alltagsroutinen auf den Bahnhöfen gilt es dabei kreativ störend aufzubrechen und so die Aufmerksamkeit der Menschen vor Ort auf anderes als Gewohnheiten zu lenken. Die bahn(hofs)-spezifischen Erfahrungsräume in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit und Zweckgebundenheit zu unterbrechen und für das Spektrum ästhetischer Erfahrungen und affektiver Transformationen zu öffnen, ist das Anliegen des Projekts, das zum doppelten Blick lädt.

© Chris Meischl

Der römische Gott Janus ist nicht nur für Anfang und Ende zuständig, sondern symbolisiert auch die Dualität ewiger Parameter wie beispielsweise Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Zukunft und Vergangenheit, Schöpfung und Zerstörung. Das Janusköpfige bezeichnet also die Erkenntnis, dass zwei entgegengesetzte Seiten zusammengehören und beide eine Validität haben.

Und so hat eben auch die Eisenbahn einerseits – seit inzwischen knapp 200 Jahren – das Reisen erleichtert und beschleunigt, während sie es andererseits heutzutage nicht selten beschwert und blockiert. Durch Streckenbau und Tunnelführung hat die Bahn, wiederum einerseits, die Landschaft für immer verändert und galt vor Erfindung des Autos als Umweltzerstörer, während man sie heute, wiederum andererseits, als Umweltschutzfaktor verteidigt. Die Bahn steht für Zivilisation und Modernität ebenso wie für Barbarei und Sittenverfall. Die Janusköpfigkeit ist nicht nur in Europa als Wirkkraft bedacht, sondern findet sich auch in Varianten in anderen Kulturen.

In der chinesischen Philosophie etwa werden Polaritäten mit dem Taijitu, dem Yin und Yang Symbol, als sich ergänzende Gegensätze festgehalten. Das ist insofern für das Projekt interessant, weil eine Art klanglicher Reise zwischen weiten Welten und Zeiten das thematische Zentrum der unterschiedlichen Projektstationen bildet. Lebensbejahung versus Weltabkehr, verstreichende Zeit und Ewigkeit, Abschied und Ankunft, Krise und Kreativität sind auch die konkreten Sujets, mit denen sich Gustav Mahler in seinem »Lied von der Erde« auseinandergesetzt hat – um es an die Punkte der Bahnreise zu knüpfen: Abschied und Ankunft.

Es lassen sich nun viele sprachliche Gegensätze in diesem symphonischen Liederzyklus ausmachen. Die Vertonung der ursprünglich chinesischen Gedichte lässt eine Yin-Yang-Polarität erkennen: Herbst – Frühling, Rausch – Meditation, Tag – Nacht, nüchtern – trunken, Traum – Wirklichkeit sowie Leben – Tod.

Solche Spaltungen ließen sich zudem biografisch auf den Komponisten selbst übertragen, der sich als südostböhmischer Jude im protestantischen Hamburg im Kleinen Michel aus taktischen Gründen zum Katholik taufen ließ, um dann als Hofoperndirektor in Wien zu reüssieren. Mahler war der umjubelte Dirigent, der aber als Komponist Anerkennung suchte; aus der engen Provinz kommend, wurde er zum Weltbürger, der zwischen New York und vielen europäischen Städten reiste. Gustav Mahler scheint Polaritäten in sich zu vereinen und hat es 1904 in einer paradoxen Existenzfrage auf den Punkt gebracht: »Muss man denn immer erst tot sein, bevor einen die Leute leben lassen?«

Der Beginn einer Reise steckt zwischen Leben und Tod in dem Sinne, dass etwas Neues vor einem liegt, nachdem etwas verabschiedet wurde – jeder Schritt nach vorne lässt etwas zurück. Der Beginn von »Station to Station« wird filmatisch begleitet und dokumentiert die Reise der Kremerata Baltica zu den Stationen. Das vielfach ausgezeichnete, baltische Kammerorchester unter der künstlerischen Leitung von Gidon Kremer wird zu Konzerten einladen, die kostenfrei sind mit begrenztem Platzkontingent.

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Konzerte

Eintritt frei, begrenzte Anzahl an Plätzen

© Chris Meischl

In den fünf Konzerten werden auf die jeweilige Stadt abgestimmte Programmpunkte von Weinberg, Kancheli, Šerkšnytė, Magin, Schubert (bearbeitet von Georgijs Osokins), Tschaikovsky und überall als Konstante, Gustav Mahlers Klavierquartett-Satz in einer Fassung für Streicher von Alexander Asteriades, gespielt.

Mahler hat nach eigener Aussage ab seinem vierten Lebensjahr »immer Musik gemacht und komponiert«, er galt als pianistisches Wunderkind, doch hat er fast alle Frühwerke selbst vernichtet. Es ist wohl einem Zufall zu verdanken, dass der erste Satz eines Klavierquartetts in a-Moll, den er als Konservatoriumsschüler schrieb, erhalten geblieben ist. Auch wenn sich formal gesehen das Stück dem Schema des Sonatenhauptsatzes fügt mit dem Hauptthema in a-Moll und dem Seitenthema in der Tonikaparallele C-Dur, so geraten feste Strukturen schnell ins Schwanken, wenn ab Takt 32/33 ein thematisch fremder Gedanke in D-Dur erscheint. Überhaupt werden immer wieder neue Gedanken episodisch aneinandergereiht, so dass es gar nicht zu einer eigentlichen Durchführung kommt. Der ungewöhnliche Umgang mit der Sonatenhauptsatzform ist dabei keine Schwäche des Schülers, sondern ein kreatives, bisweilen eigenwilliges Eingreifen in die Form und ein mutiges Weiterführen fast schon gewalttätig klingender harmonischer Wendungen. Dieser Quartettsatz ist das Fragment einer Krise, die zu jedem Konzertbeginn klanglich von Abschied und Aufbruch kündet. Mahler schrieb nach seinem Austritt aus dem Konservatorium kein weiteres kammermusikalisches Werk mehr, sondern führt seine Ideen in der Großform der Symphonie aus.

Konzerte

Eintritt frei, begrenzte Anzahl an Plätzen

© Angie Kremer

1997 vom renommierten Violinisten Gidon Kremer gegründet, ist das preisgekrönte Kammerorchester Kremerata Baltica eines der berühmtesten internationalen Ensembles Europas. Maestro Kremer wählte gezielt junge, enthusiastische Musiker, um der gefürchteten „orchestritis“, die viele professionelle Orchestermusiker befällt, vorzubeugen. Charakteristisches Wesensmerkmal der Kremerata Baltica ist ihr
kreativer Ansatz bei der Programmgestaltung, die oftmals über den Mainstream hinausreicht und Anlass bot für Weltpremieren von Werken von Komponist*innen wie Arvo Pärt, Giya Kancheli, Pēteris Vasks, Leonid Desyatnikov und Alexander Raskatov. In den vergangenen Jahren hat das Orchester einen besonderen Fokus auf das Schaffen Mieczysław Weinbergs gelegt und alle seine Kammersymphonien sowie sein Klavierquintett (in orchestraler Fassung) aufgenommen.

Seit ihrer Gründung hat die Kremerata Baltica in über 50 Ländern gespielt, ist in 600 Städten aufgetreten und hat weltweit mehr als 1500 Konzerte gegeben. Das breit gefächerte und sorgfältig ausgewählte Repertoire des Orchesters wird auch in seinen zahlreichen und vielgerühmten Aufnahmen widergespiegelt. Das bei ECM
veröffentlichte Album mit Werken von Mieczysław Weinberg wurde 2015 für einen Grammy Award nominiert, die Aufzeichnung von Schostakowitschs Klavierkonzerten mit Anna Vinnitskaya gewann den ECHO Klassik 2016. Die Aufnahme von Weinbergs Symphonien Nr. 2 und Nr. 21, ein gemeinsames Unterfangen mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Mirga Gražinytė-Tyla, erhielt 2020 einen
Gramophone Award. Sowohl die Kremerata Baltica als auch Gidon Kremer wurden für ihre internationalen

Erfolge und ihren globalen Beitrag zur Bereicherung der Musikwelt mit dem Praemium Imperale ausgezeichnet. Wegen der Beschränkungen im Rahmen der Coronapandemie konnte sich das Orchester
2020 nicht wie üblich treffen, proben, Konzerte geben und durch die Welt reisen. Die in unterschiedlichen Ländern lebenden Mitglieder verloren jedoch keineswegs ihr Verlangen, Musik aufzuführen und den Menschen damit Freude zu bereiten. Die in Litauen lebenden Mitglieder der Kremerata Baltica begannen dort mit der Erstellung und Aufführung ihrer Programme, während die in Lettland lebenden Mitglieder
zunächst in Lettland und Estland auftraten.

Die Kremerata Baltica dient auch als Medium, um Gidon Kremers reichhaltige künstlerische Erfahrung mit der neuen Generation zu teilen und gleichermaßen das musikalische und kulturelle Leben des Baltikums zu fördern und anzuregen.